Donnerstag, 12. September 2013

Das trügerische Gehirn

Wie wir sehen, was nicht ist - Was wir wahrnehmen, erscheint uns als Wirklichkeit. Tatsächlich ist unser Bild der Welt subjektiv, lückenhaft, trügerisch und zerbrechlich. Zaubertricks, Sinnestäuschungen und so erstaunliche Phänomene wie Synästhesie machen das deutlich.


Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein alter Hut – und nichtsdestotrotz immer wieder aufs Neue verblüffend. Ich habe doch genau gesehen, dass der Zylinder eben noch leer war. Jetzt lugt da plötzlich ein Kaninchen putzmunter über die Krempe. Und – Simsalabim – schaut noch ein zweites hervor. Wie hat der Zauberer die da nur hineinbekommen? Es muss direkt vor meinen Augen passiert sein. Und vor denen von mindestens hundert anderen Zuschauern. Aber keiner hat etwas bemerkt. Also doch Zauberei? Nein. Magier wissen nur sehr genau um die Schwächen und Eigenheiten der menschlichen Wahrnehmung, und nutzen diese geschickt aus, um ihr Publikum zu täuschen.

Ihr wichtigstes Instrument ist dabei die Aufmerksamkeit. Denn wir nehmen vor allem die Dinge bewusst wahr, auf die sich unsere Aufmerksamkeit richtet. Wie ein Scheinwerfer erhellt sie manches in unserer Umwelt und folgt dort den Ereignissen. Doch dabei kann auch einiges im Dunkeln bleiben. In diesem Dunkel agieren Zauberer. Sie lenken die Aufmerksamkeit gezielt in eine bestimmte Richtung – die falsche – mit der Folge, dass uns an anderer Stelle das – eigentlich wichtige– Geschehen entgeht. Wie genau dies funktioniert, erklärt Thomas Fraps. Fraps ist nicht nur professioneller Zauberkünstler, sondern auch diplomierter Physiker und Experte für Wahrnehmungspsychologie. Das macht ihn auch für die Hirnforschung zu einem interessanten Mann. 2009 waren auf dem Jahreskongress der amerikanischen Society for Neuroscience erstmals auch Magier eingeladen. Dies zeigt, dass die Neurowissenschaften inzwischen erkannt haben, wie wertvoll deren Tricks und Methoden sind, um Wahrnehmungsprozesse und die dahinterstehenden neuronalen Mechanismen besser zu verstehen. Denn fest steht: Zauberer täuschen nicht die Augen, sie täuschen das Gehirn. Erst dort wird aus dem Input von den Sinnesorganen eine Wahrnehmung. Doch was nehmen wir überhaupt wahr? In jedem Fall kein Eins-zu-eins-Abbild der Realität. Denn die gesamte Flut an Informationen, die permanent über das ganze Sinnessystem einströmt, zu verarbeiten, würde die Kapazitäten des Gehirns bei Weitem überfordern. Um den Überblick zu behalten, muss das Gehirn deshalb eine Auswahl treffen, das Wichtige vom Unwichtigen trennen. Genau das macht die Aufmerksamkeit.

Wahrnehmung beinhaltet also nicht nur die Aufnahme, sondern auch die Selektion, Verarbeitung und Interpretation von sensorischen Informationen. Allerdings sind die Daten von den verschiedenen Sinnessystemen nicht selten widersprüchlich oder unvollständig. Wie solche multisensorischen Sinnesinformationen integriert und verarbeitet werden, erforscht Marc Ernst am Institut für kongnitive Neurowissenschaften in Bielefeld. In seinen Virtual-Reality-Experimenten versucht er, die Wahrnehmung gezielt hinters Licht zu führen, indem er Konflikte zwischen den Sinnessystemen schafft. Quintessenz der Versuche: Das Gehirn erliegt bestimmten Täuschungen, weil es unzureichende, sensorische Daten unter Rückgriff auf Vorwissen und Erfahrungswerte zum plausibelsten Gesamtbild ergänzt.

Eine schlüssige, anschauliche Repräsentation der Umwelt und des eigenen Körpers zu schaffen – dies steht am Ende des Wahrnehmungsprozesses. Er ermöglicht es dem Menschen, sich in einer höchst komplexen Umgebung zurechtzufinden, sinnvoll zu handeln, ein mentales Modell der Welt aufzubauen und planerisch zu denken. Um ein realistisches Abbild der Wirklichkeit handelt es sich dabei nicht. Weil das, wie gesagt, die Kapazitäten des Gehirns überfordern würde, und weil es das auch gar nicht braucht. Entscheidend ist, dass die Informationsschnipsel von den Sinnessystemen zu einem subjektiv sinnvollen Gesamteindruck zusammengeführt werden.

Warum subjektiv? Weil das, was wir bewusst wahrnehmen, Ergebnis eines größtenteils unbewusst ablaufenden Verarbeitungsprozesses ist, in den neben Sinnesdaten auch Emotionen, Erinnerungen, persönliche Erfahrungen und bereits gespeicherte Vorstellungen einfließen. Also Aspekte, die individuell unterschiedlich sind. Die Binsenweisheit, dass jeder Mensch die Welt mit eigenen Augen sieht, trifft also zu. Noch richtiger wäre zu sagen: Jeder Mensch nimmt seine eigene Welt wahr.

Wie schnell diese Welt eine ganz andere werden kann, macht das Phänomen des Neglect deutlich. Es tritt bei rund einem Viertel aller Patienten mit Schlaganfällen in der rechten Hirnhälfte auf und führt dazu, dass die Betroffenen die linke Seite ihres Körpers und ihres Wahrnehmungsraumes ignorieren. Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren könnten nachweisen, dass Sinnesreize auf der vernachlässigten Körperseite vom Gehirn zwar noch registriert werden, zumindest auf der Stufe der primären sensorischen Verarbeitungszentren. Doch der Input gelangt nicht mehr ins Bewusstsein der Betroffenen. Die Hirnforschung ist sich inzwischen weitgehend einig, dass es sich beim Neglect um eine Störung der Aufmerksamkeit handelt, die glücklicherweise in den meisten Fällen nur vorübergehend ist.

Aber wie wird die Ausrichtung der Aufmerksamkeit vom Gehirn gesteuert? Welche Hirnregionen sind an Wahrnehmungsprozessen überhaupt beteiligt? Und welche Aufgaben haben sie dabei? Nicht nur Neglect-Patienten helfen der Hirnforschung, diese Fragen zu beantworten. Sondern auch sehr vergnüglichere Beispiele dafür, wie trügerisch unsere Wahrnehmung sein kann: die optischen Illusionen. Wahrnehmungsforscher David Eagleman bezeichnet sie als „Fenster in die Welt des Sehens.“ Ein Fenster, durch das inzwischen viele Neurowissenschaftler schauen, um herauszufinden, wie die visuelle Wahrnehmung funktioniert.

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Die waagerechten Linien sind exakt parallel.
File:Zollner illusion.svg
Die diagonalen Linien erscheinen gekrümmt, aber tatsächlich sind sie gerade und parallel.

Doch nicht nur das wichtigste Sinnessystem des Menschen, der Sehsinn, ist anfällig für Täuschungen. Auch die Geschmackswahrnehmung kann in die Irre geführt werden. So lässt die afrikanische Wunderbeere Saures süß schmecken. Noch interessanter – vor allem für die Pharmaindustrie – sind so genannte Bitterblocker. Mit diesen molekularen Geschmacksverdrehern soll die starke Bitterkeit mancher Medikamente nicht mehr wahrnehmbar gemacht werden. Für die Wissenschaft sind solche Substanzen allerdings in erster Linie Werkzeuge, um die Geheimnisse des Geschmackssinns zu entschlüsseln.

Eine außergewöhnlich reiche Wahrnehmungswelt hat Uta Jürgens, Psychologin und Doktorandin am MPI für Hirnforschung in Frankfurt. Liest sie ein Buch oder eine Zeitung, sieht sie die Buchstaben nicht so wie sie sind – schwarz auf weiß – sondern in bestimmten Farben. Und genauso gibt es Personen, die, wenn sie Musik hören, die Töne sehen oder sogar schmecken. Synästhesie heißt dieses Phänomen, bei dem zwei oder sogar drei Sinnesempfindungen miteinander gekoppelt sind. Manche Experten schätzen, dass bis zu vier Prozent aller Menschen Synästhetiker sein könnten. Was in ihrem Gehirn anders läuft, wird von Neurowissenschaftlern seit einigen Jahren intensiv untersucht. Noch sind die Erklärungsmodelle hypothetisch. Doch fest steht: Genau wie Neglect-Patienten, visuelle Illusionen und die Tricks von Zauberkünstlern sind Synästhetiker ein wertvolles Instrument, um die menschliche Wahrnehmung besser zu verstehen.


"Die trügerische Welt im Kopf" von Ulrich Kraft - gefunden im Internet auf www.dasGehirn.info – ein Projekt der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft e. V. in Zusammenarbeit mit dem ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe.

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