Donnerstag, 28. November 2013

Ich lerne, weil ich schlafe

Tagsüber pauken wir Vokabeln oder üben ein Klavierstück. Die darauf folgende Nacht entscheidet darüber, ob wir das Erlernte auch im Kopf behalten: Die richtige Form des Schlafs gibt dabei den Ausschlag. Das zeigen Forschungsergebnisse immer deutlicher.


viel geschlafen und viel gelernt
Ich muss nur das Chemiebuch unter das Kopfkissen legen, und wenn mich der Lehrer morgen in der Schulstunde fragt, dann beherrsche ich das Periodensystem perfekt. Als Kinder haben wir solche Mythen geglaubt – heute dagegen wissen wir, dass man nicht im Schlaf lernen kann. Oder doch? Natürlich müssen wir das Lehrbuch unter dem Kopfkissen hervorholen und darin lesen, von allein wandern die Informationen nicht in unser Gehirn. Aber damit das Wissen auch im Kopf bleibt, dafür ist der richtige Schlaf entscheidend. Das haben zahlreiche Experimente von Hirnforschern in den letzten Jahrzehnten gezeigt.

  • Studien zeigen, dass der Schlaf wesentlich dafür ist, dass sich das Gedächtnis bildet.
  • Im Schlaf zeigen sich dieselben Netzwerkaktivitäten im Gehirn wie während des Lernens am Tage. Forscher vermuten, dass sich durch eine solche Wiederholung die Erinnerung konsolidiert.
  • Für das deklarative Gedächtnis sind vor allem die Tiefschlafphasen wichtig. Handlungsabläufe und emotionale Ereignisse dagegen bearbeitet das Gehirn vor allem in den Traumschlafphasen.
  • Ohne den richtigen Schlaf kann sich ein Mensch emotionale Ereignisse nicht so gut merken. Forscher hoffen deshalb, traumatisierte Patienten behandeln zu können, indem sie unmittelbar nach den Erlebnissen den Schlaf entziehen.

Anschaulich wird dieser Effekt etwa bei einem Versuch, den Ines Wilhelm und Susanne Diekelmann im Jahr 2010 durchführten. Die Psychologinnen forschten damals bei einem der wichtigsten deutschen Schlafforscher, Jan Born, der kürzlich von der Uni Lübeck an die Uni Tübingen wechselte. Bei dem Experiment sollten Studenten Wortpaare lernen: zu Quadrat gehört Kreis, zu Flasche gehört Geist und so weiter. Anschließend sagten ihnen die Wissenschaftler, dass diese Wortpaare anderntags abgefragt würden. Eine Gruppe durfte schlafen, die andere nicht. Am nächsten Tag konnten sich die ausgeschlafenen Studenten wesentlich besser an die Wortkombinationen erinnern als die mit der durchwachten Nacht. Ähnliche Studien gibt es viele. Sie alle kommen zu dem Ergebnis, dass während des Schlafs etwas passiert, dass das Erinnerungsvermögen stärkt.
Doch warum ist das so? Einen Hinweis geben die Experimente der beiden Psychologinnen, denn sie testeten noch weitere Gruppen von Studenten nach demselben Schema, mit einer entscheidenden Abweichung: Die Probanden sollten zwar auch lernen, man verriet ihnen aber anschließend nicht, dass sie die Wortpaare am nächsten Tag wissen mussten. Vielmehr dachten sie, es stünde ein komplett anderer Test auf dem Programm. Das Ergebnis: Die Probanden konnten sich schlecht an die Wortpaare erinnern – auch diejenigen, die ausreichend  geschlafen hatten. Was war passiert? Die Studenten hatten sich mit dem gleichen Engagement die Wörter eingeprägt, also kamen wohl in ihren Gehirnen die gleichen Informationen an. Danach kamen sie in den Genuss von Schlaf, der doch für gutes Erinnern so wichtig ist. Dennoch versagten sie am nächsten Morgen. Der Unterschied allein war, dass sie davon ausgingen, sie brauchten das Gelernte nicht mehr. „Das ist möglicherweise die wichtigste Funktion des Schlafes“, sagt Susanne Diekelmann. „Wir treffen von all dem Input des Tages eine Auswahl: Das Wichtige wird ins Langzeitgedächtnis übertragen, das Unwichtige nicht.“

Spezialisierte Zellen rekapitulieren die Informationen des Tages

Mittlerweile haben Forscher eine Vorstellung davon, welche Prozesse dabei im Gehirn ablaufen. Am besten untersucht ist das so genannte deklarative Gedächtnis. Damit beschreiben die Wissenschaftler die Fähigkeit, sich Fakten zu merken, etwa die Wortpaare aus dem oben genannten Experiment. Für diese Form von Gedächtnis gelang den US-Forschern Matthew Wilson und Bruce McNaughton bereits in den 1990er Jahren ein Durchbruch. Sie ließen Ratten eine neue Umgebung – etwa ein Labyrinth – erkunden. Dabei zeigen, das war bereits bekannt, einige Nervenzellen im Hippocampus eine auffällige Aktivität. Die Zellen heißen ‘place cells’, denn mit ihrer Hilfe wird eine Art Landkarte im Gehirn gespeichert. Die beiden Forscher konnten für einen Weg, den eine Ratte im Labyrinth ging, ein Aktivitätsmuster dieser besonderen Zellen aufzeichnen. Und genau dieses Muster fanden die Forscher wieder, während die Ratten schliefen. Die place cells rekapitulierten also in der Nacht die Informationen von den Orten, die am Tag besucht worden waren.
Dieses Phänomen haben zahlreiche Forscher inzwischen auch bei anderen Formen der Erinnerung wiedergefunden: Netzwerkaktivitäten, die während des Lernens sichtbar sind, treten in ähnlicher Form beim Schlafen auf. Viele Wissenschaftler vermuten, dass über den Mechanismus ein am Tag erlebtes Ereignis erst konsolidiert und dann ins Langzeitgedächtnis übertragen wird. Besonders beim deklarativen Lernen scheint dabei der Hippocampus eine wichtige Rolle zu spielen. „Man kann sich diese Hirnregion wie einen Zwischenspeicher vorstellen“, sagt Susanne Diekelmann. „Wenn wir etwa Vokabeln lernen, dann sind viele verschiedene Bereiche des Neocortex aktiv. Bis wir schlafen, merkt sich der Hippocampus, dass diese Einzelteile zusammengehören. In der Nacht dann löst die Hirnregion die gleichen Cortex-Aktivitäten aus. Vermutlich werden dort erst die Einzelinformationen als eine zusammenhängende Episode abgespeichert.“

Traum und Gedächtnis

Viele Wissenschaftler vermuten mittlerweile, dass im Schlaf die Ereignisse des Tages im Gehirn rekapituliert werden und auf diese Weise das Gedächtnis gebildet wird. Wer zum ersten Mal von dieser Theorie hört, der könnte denken: Aha, das erklärt auch, warum wir träumen. Wir bekommen einfach während des Schlafes mit, dass wir das zuvor Erlebte im Geiste wiederholen. Doch so einfach ist es wohl nicht. „Ob Träumen etwas mit der Gedächtnisbildung zu tun hat, ist schwierig zu sagen, da scheiden sich die Geister“, so Susanne Diekelmann. Dagegen spricht, dass – zumindest für das deklarative Gedächtnis – diese Rekapitulation ausgerechnet in der Schlafphase stattfindet, in der wir am wenigsten träumen: im Tiefschlaf. Dann kann man die Aktivitäten des Hippocampus sogar im Elektroenzephalogramm (EEG) messen: Bestimmte Muster, so genannte ‘sharp wave ripples’, gehen in der Schlafphase von dieser Hirnstruktur aus.
Welchen Einfluss die Schlafphasen auf das Lernen haben, zeigt eine Studie, die Jan Born bereits 1997 durchführte. Dabei untersuchte er die Schlafphasen bewusst nicht einzeln. Schließlich bedeutet es für die Probanden großen Stress, ständig aufgeweckt zu werden – eine Tatsache, die sich auch sehr schlecht aufs Lernen auswirkt. Stattdessen ließ er eine Gruppe – die Frühschläfer – von 23 Uhr an drei Stunden schlummern und weckte sie dann auf. Die andere Gruppe – die Spätschläfer – durfte erst von drei Uhr an nächtigen und wurde um sechs Uhr geweckt. Durch diesen Versuchsaufbau konnte Jan Born den Effekt der Schlafphasen auf das Lernen eingrenzen. In den drei Stunden hatten zwar beide Versuchsgruppen den natürlichen Wechsel der Schlafphasen. Die Frühschläfer erlebten dabei aber – das konnten die Forscher im EEG kontrollieren – vor allem Tiefschlafphasen. Bei den Spätschläfern dagegen dominierte der Traumschlaf. Ihn bezeichnet man auch als REM-Schlaf, da sich dabei die Augen schnell hin und her bewegen (Engl. Rapid Eye Movement, REM).
Testete man das deklarative Gedächtnis, dann schnitten die Frühschläfer sehr viel besser ab als die Spätschläfer – ein Ergebnis, das zu den oben genannten neurophysiologischen Messungen passt: Faktenwissen wird wohl vor allem in Tiefschlafphasen konsolidiert. Anders sieht die Sache bei dem so genannten prozeduralen Gedächtnis aus, das für das Erlernen von automatisierten Handlungsabläufen wie Klavierspielen wichtig ist. Hier waren die Spätschläfer sehr viel erfolgreicher. Bei dieser Lernform sind also wohl vor allem die REM-Phasen wichtig.
Wie schon erwähnt, erlebten bei dem Versuchsaufbau alle Probanden den natürlichen Wechsel der Schlafphasen. Wie sich später herausstellte, könnte das wesentlich gewesen sein: Susanne Diekelmann und Jan Born haben 2010 in einem Übersichtsartikel viele Studienergebnisse zusammengetragen und kommen zu der Vermutung, dass das Gedächtnis gerade durch den Wechsel der Schlafphasen gebildet wird.

Emotionen setzen sich während der REM-Phase fest

Bei den bereits genannten Experimenten achteten die Forscher jeweils darauf, möglichst wenige Emotionen bei den Lernenden auszulösen, denn diese machen die Situation komplizierter: Schließlich sind dann sehr viel mehr Hirnbereiche einbezogen. Auf der anderen Seite weiß man aber, dass Gefühle unser Gedächtnis ganz wesentlich beeinflussen. Eine Geschichte etwa, die unser Herz anrührt, brauchen wir nur einmal zu lesen und schon haben wir sie uns gemerkt. Eine Gebrauchsanweisung dagegen, die keine Gefühle bei uns auslöst, müssen wir jedes Mal wieder herausholen, wenn wir etwa den DVD-Player programmieren wollen.
In einer Studie von 2001 testete das Team um Jan Born daher, wie der Schlaf sich auf emotionale Erinnerungen auswirkt. Probanden bekamen zutiefst aufwühlende Texte zu lesen, etwa die minutiöse Schilderung eines Kindsmordes. Wieder durften manche Versuchsteilnehmer ab 23 Uhr für drei Stunden schlafen, andere erst in den Morgenstunden. Eine dritte Gruppe musste die gesamte Nacht durchwachen. Letztere konnte sich anderntags kaum erinnern, den Frühschläfern gelang das ein wenig besser. Mit Abstand am besten schnitten die Spätschläfer ab, die also vor allem in den Genuss des Traumschlafes gekommen waren. Sie wussten noch viele Details der fürchterlichen Geschichten – sogar noch vier Jahre später. Emotionale Erlebnisse – das bestätigten spätere Studien – werden im Wesentlichen während der REM-Phasen konsolidiert und ins Gedächtnis übertragen.
Ein Ergebnis, das übrigens vollkommen gegen eine Theorie von Sigmund Freud spricht. Der Begründer der Psychoanalyse glaubte, dass Träume eine reinigende Wirkung haben, sich also Wut, Angst und Sorgen in der Nacht verflüchtigen. Diese Idee ist auch in der Küchenpsychologie weit verbreitet: „Schlaf mal drüber, danach sieht die Welt viel besser aus!“, ist ein wohl gemeinter Rat. Aber nicht immer ein guter, zumindest nicht direkt in der Nacht nach einem möglicherweise schlimmen oder gar traumatischen Erlebnis. Heute diskutieren Psychologen und Neurowissenschaftler, ob sich nicht erst im Schlaf hoch emotionale Erlebnisse im Kopf festsetzen. Eine Erkenntnis, die möglicherweise auch Menschen helfen könnte, die Schreckliches durchleiden mussten: Vielleicht können sie damit besser umgehen, wenn sie in der Folgenacht nicht schlafen – so zumindest die Theorie mancher Forscher.
Ob wir es nun wie im Falle des Paukens begrüßen oder im Falle von schlimmen Erlebnissen verfluchen mögen: Die Nachtruhe kann unser Erinnerungsvermögen schärfen. Im Schlaf zu lernen, ist also in einem ganz wörtlichen Sinne durchaus möglich.


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